Jüdische Gemeinde Thüngen

1933 zählte die jüdische Gemeinde in Thüngen mindestens 153 Personen. Ihre Wurzeln reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück, als sich unter dem Schutz der Freiherren von Thüngen und seit 1628 auch des Juliusspitals vereinzelt Juden im Ort ansiedelten. Die Reichsritter lehnten eine Vertreibung der Juden ab, wie sie die Würzburger Fürstbischöfe forderten. 1699 lebten bereits 28 jüdische Familien im Ort, von denen 12 unter dem Schutz der Freiherren von Thüngen und 16 unter dem Schutz des Juliusspitals standen.

Im Lauf des 18. Jahrhunderts stieg die Anzahl der jüdischen Familien weiter auf 42. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichte die Gemeinde mit 323 bzw. 350 Mitgliedern ihren Höchststand – hier weichen die Angaben voneinander ab. Danach und nachdem der jüdischen Bevölkerung in Bayern 1861 die freie Wohnortwahl gestattet worden war, sank ihre Anzahl wieder. Im Jahr 1925 waren es noch 180 Personen. Doch Thüngen blieb eine der größten jüdischen Landgemeinden der Region.

Vermutlich noch im 17. Jahrhundert ließ das Juliusspital auf seinem Grund eine „neue Synagoge“ errichten, die seit 1760 wohl aus einem Betsaal im aufgesetzten Obergeschoss eines größeren Hauses bestand. Wenig später erwarb die jüdische Gemeinde den Hausteil mit der Synagoge und beschäftigte einen eigenen Ortsrabbiner, der zugleich als Kantor und Schächter fungierte. Seit 1825 erhielten die jüdischen Kinder Unterricht in einer eigenen, neu errichteten Elementarschule (bis 1935/36). Als der Zustand des Synagogengebäudes untragbar wurde, ließ die Gemeinde 1852/53 direkt daneben eine neue Synagoge errichten.

Systematische Entrechtung, wirtschaftliche Boykotte und der wachsende Verfolgungsdruck ab 1933 veranlassten den größten Teil der jüdischen Gemeinde aus Thüngen ab- und auszuwandern. In den ersten Jahren gingen jeweils nur wenige Personen, bevor von 1937 bis 1939 die jüdische Bevölkerung ihre Heimat in Scharen verließ. In dieser Zeit kulminierten Verleumdung, Hetze und Gewalt, die schließlich am 10. November 1938 in der Verwüstung der Synagoge und ihrer Ritualien, der Demolierung und Plünderung von Privatwohnungen und Geschäften sowie Übergriffen auf Menschen gipfelten. Mehr als 100 Personen, SA-Leute aus Thüngen und Umgebung, aber auch Ortsbewohner, beteiligten sich daran. Zum Zeitpunkt der Volkszählung am 17. Mai 1939 wurden in Thüngen nur noch 14 jüdische Bewohner:innen gezählt.

Mindestens 102 Gemeindemitgliedern gelang zwischen 1933 und 1941 die rettende Flucht ins Ausland – 33 von ihnen von Würzburg aus. Sechs weitere Personen wurden nach ihrer Flucht aus den europäischen Nachbarländern deportiert. Bei drei Emigranten kann die Auswanderung lediglich vermutet werden. Hauptfluchtziel waren die USA (74), gefolgt von Palästina (5-7), Großbritannien (5), Panama (5), Chile (4), Italien (2) und Frankreich (1). Mindestens 11, vermutlich jedoch mehr Personen verstarben in Thüngen oder an ihren neuen Wohnorten.

27 Jüdinnen und Juden wurden aus Unterfranken deportiert. (Die Angaben auf der genannten Seite sind nicht ganz aktuell.) Nur eine Familie mit drei Personen war im April 1942 noch in Thüngen und wurde direkt von dort über Würzburg nach Krasniczyn im besetzten Ostpolen verschleppt. Eine ebenfalls dreiköpfige Familie wohnte in Kitzingen und musste im März 1942 dort den Transport ins ebenfalls ostpolnische Izbica besteigen. Alle anderen jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus Thüngen, die noch in Unterfranken wohnten, waren bereits nach Würzburg geflohen, bevor sie von dort im November 1941 nach Riga-Jungfernhof, 1942 nach Izbica und Theresienstadt sowie 1943 nach Auschwitz deportiert wurden. Mit einer Ausnahme wurden sie alle ermordet.

Das gleiche Schicksal ereilte mindestens weitere 13 Personen an ihren neuen Wohnorten in Deutschland, darunter besonders Frankfurt am Main, sowie in Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Italien. Thüngen hat demnach mindestens 39 Opfer der Shoa zu beklagen, darunter zwei Kinder und Jugendliche. Nur eine Frau überlebte.

Thüngen beteiligt sich mit zwei Koffern am Projekt „DenkOrt Deportationen“. Das lokale Gepäckstück erinnert an die deportierten Jüdinnen und Juden des Ortes. Der zweite Koffer befindet sich in Würzburg und bildet mit den Gepäckstücken anderer Kommunen den “DenkOrt Deportationen” vor dem Hauptbahnhof. Siehe Grundinformationen zum “DenkOrt” und zu den Deportationen.

Angaben zum Standort des DenkOrts in Thüngen folgen zu gegebener Zeit.

Ausführliche Informationen zur jüdischen Gemeinde Thüngen
Quellen zu den Gemeindeartikeln

Weitere Quelle: Thüngener Juden. Zusammenstellung der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner von Thüngen aus den Einwohnermeldeunterlagen © Marktgemeinde Thüngen, 2017

© Recherche und Text: Nathalie Jäger & Rotraud Ries, 2025

Shoa-Opfer, die 1933 in Thüngen gelebt hatten

Irma Bauer (1914 – 1944)
Lina Bauer, geb. Strauß (1882 – 1944)
Willi Bauer (1863 – 1943)
Betti Cohen, geb. Vorchheimer (1905 – 1942)
Karoline Fleischhacker, geb. Neumann (1882 – 1941/42)
Siegmund Fleischhacker (1883 – 1941/42)
Adelheid Frank, geb. Oberdorfer (1888 – 1943)
Moses Frank (1889 – 1942?)
Sofie Frank (1921 – 1942?)
Elisabeth (Lissi) Frankenburger (1911 – 1943)
Moritz Frankenburger (1896 – 1942)
Rosalia (Rosa) Frankenburger, geb. Löwenthal (1874 – 1943)
Ricka Hirschheimer, geb. Kraft (1877 – 1944)
Samuel Hirschheimer (1872 – 1944)
Siegfried Hirschheimer (1907 – 1942?)
Babette Levy/Levi, geb. Bravmann (1888 – 1944/45)
Isaak Neumann (1879 – 1942)
Jette Neumann, geb. Hecht (1874 – 1942)
Lilli Neumann (1914 – 1942)
Moses Neumann (1882 – 1941/42)
Max Mendel Rosenbaum (1878 – 1941)
Selma Rosenbaum, geb. Adler (1885 – 1941)
Jeanette Scharlach, geb. Kissinger (1855 – 1942)
Günther Schlössinger (1927 – 1942)
Klara Schlössinger, geb. Katzmann (1886 – 1942)
Moses Schlössinger (1890 – 1942)
Jakob Stein (1866 – 1943)
Julie Stein (1907 – 1943)
Pauline (Lina) Stein, geb. Stern (1872 – 1943)
Gretchen Strauß (1907 – 1945)
Moritz Strauß (1897 – 1941/1945)
Rosa Strauß (1908 – 1945)
Bertha Vorchheimer, geb. Hamburger (1877 – 1942)
Emil Vorchheimer (1895 – 1941/1942)
Ernestine Vorchheimer (1892 – 1941/1942)
Ignaz Vorchheimer (1899 – 1944)
Manfred Vorchheimer (1935 – 1941/1942)
Mina Vorchheimer, geb. Kahn (1882 – 1941/1942)
Selma Vorchheimer, geb. Adler (1896 – 1941/1942)

Überlebende der Deportationen
Cilly Frankenburger (1904 – unbekannt)