Jüdische Gemeinde Urspringen
1933 zählte die jüdische Gemeinde in Urspringen 78 Personen. Ihre Wurzeln reichen bis in die 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts zurück. 1655 lebten bereits zwölf jüdische Familien mit 45 Personen in Urspringen. Im 18. Jahrhundert waren es wenig mehr, die nun im Schutz zweier Herren standen. Nach den Berufsangaben in den Matrikellisten von 1817 befassten sich viele mit Vieh- und Warenhandel. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlebte die Gemeinde ihre Blütezeit und wuchs bis 1833 auf mehr als 220 Mitglieder an. Das waren etwa 20 % der Dorfbevölkerung. In den folgenden Jahrzehnten ging die Zahl der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner auch aufgrund von Auswanderungen in die USA zurück, bis die Gemeinde im Jahr 1925 nur noch 86 Mitglieder zählte.
Um 1700 nutzte die jüdische Gemeinde Teile eines Privathauses als Betraum und kaufte den Hausteil schließlich. Wenig später könnte ein erster eigenständiger Synagogenbau errichtet worden sein – an der Stelle des bis heute erhaltenen Gebäudes. Dieses wurde 1802/03 als repräsentative Landsynagoge im klassizistischen Stil errichtet – vermutlich, weil der Vorgängerbau baufällig war und/oder seine Funktion für die wachsende Gemeinde nicht mehr erfüllte. 1860 ließ die Gemeinde das Gebäude grundlegend renovieren und die Raumaufteilung im Inneren auch liturgisch modernisieren. 1830 eröffnete die Judenschaft eine eigne Elementarschule in einem neuen Gebäude, in dem auch der Lehrer wohnte. Sie bestand bis 1917.
Trotz systematischer Entrechtung, wirtschaftlicher Boykotte und wachsenden Verfolgungsdrucks ab 1933 zögerten die Mitglieder der jüdischen Gemeinde Urspringen zunächst, ihre Heimat zu verlassen. Dafür zogen zwei Mitglieder einer Familie aus Gersfeld zu. Erst ab 1935 setzte die Abwanderung ein und es gelang bis 1940 15 Personen erfolgreich zu emigrieren. Einige zogen zuvor in größere Städte, andere wanderten direkt aus Urspringen aus. Zielländer waren die USA (9), Palästina (5) und Frankreich (3). Weitere Bewohnerinnen und Bewohner flohen meist in Städte, die nicht allzu weit entfernt lagen wie Aschaffenburg, Frankfurt oder Würzburg. Vor Verfolgung schützte sie das nicht, auch zwei der drei Frauen, die nach Frankreich emigriert waren, wurden deportiert und ermordet. Vermutlich elf Personen starben zwischen 1933 und 1942 in Urspringen oder an ihren neuen Wohnorten eines natürlichen Todes.
Den Hass der Nationalsozialisten hatten in Urspringen als erste die Schüler der Volksschule zu spüren bekommen, die von ihrem Lehrer und Schulleiter Hans Weigand, dem Ortsgruppenleiter der NSDAP, permanent als Juden beschimpft wurden. Er wollte sie aus der Schule drängen – lehnte die Einrichtung einer jüdischen Volksschule jedoch gleichzeitig ab. Erste Ausschreitungen richteten sich im September 1938 gegen die Häuser jüdischer Familien, an vier Häusern wurden die Fenster eingeschlagen. Im Novemberpogrom verwüsteten SA-Männer aus Urspringen und weiteren Orten der Region die Synagoge, zerstreuten und zerstörten mit Beilen deren Inventar und viele Ritualien. Es folgte ein Zerstörungs- und Raubzug durch zehn jüdische Häuser und die Festnahme der jüdischenMänner. Auch nach dem Pogrom tat sich Weigand durch eine besonders gehässige und repressive Haltung gegenüber den verbliebenen Jüdinnen und Juden hervor. So wurde ihnen unter anderem verboten, sich in Ersatzräumen zum Gebet zu treffen.
46 Urspringer Jüdinnen und Juden wurden schließlich aus Unterfranken deportiert, darunter eine große Gruppe mit 41 Menschen direkt aus Urspringen. (Die über den Link angezeigte Seite ist nicht mehr ganz aktuell.) Hinzu kam die nach 1933 aus Gersfeld zugezogene Frau. Diese 42 Personen wurden im April 1942 nach Würzburg gebracht und am 25. April von dort nach Kraszniczyn im besetzten Ostpolen verschleppt. Fünf weitere Personen und der Mann aus Gersfeld, die schon seit 1939 oder seit ihrer Umsiedlung zwischen März und Mai 1942 in Würzburg wohnten, kamen mit den beiden Transporten im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt. Sechs weitere Menschen wurden von ihren neuen Wohnorten in Deutschland und im nicht sicheren europäischen Exil deportiert. Niemand der Deportierten überlebte. Somit sind für Urspringen mindestens 52 Opfer der Shoa zu beklagen, darunter 12 Kinder und Jugendliche.
Urspringen beteiligt sich mit zwei Koffern am Projekt „DenkOrt Deportationen“. Das lokale Gepäckstück erinnert an die deportierten Jüdinnen und Juden des Ortes. Der zweite Koffer befindet sich in Würzburg und bildet mit den Gepäckstücken anderer Kommunen den “DenkOrt Deportationen” vor dem Hauptbahnhof. Siehe Grundinformationen zum “DenkOrt” und zu den Deportationen.
Angaben zum Standort des DenkOrts in Urspringen folgen zu gegebener Zeit.
Ausführliche Informationen zur jüdischen Gemeinde Urspringen
Quellen zu den Gemeindeartikeln
Weitere Quellen: Zusammenstellungen zur jüdischen Bevölkerung in Urspringen nach den Meldeunterlagen im Gemeindearchiv Urspringen von Leonhard Scherg
© Recherche und Text: Nathalie Jäger & Rotraud Ries, 2025; mit Unterstützung von Dr. Leonhard Scherg
Shoa-Opfer, die 1933 in Urspringen gelebt hatten
Adolf Adler (1882 – 1942)
Anni, Fanny Adler (1924 – 1942)
Bertha Adler, geb. Weinberg (1892 – 1942)
David Adler (1879 – 1942)
Dina Adler, geb. Hahn (1893 – 1942)
Fanny Adler (1899 – 1940)
Frieda Adler, geb. Landauer (1875 – 1942)
Friedrich Gustav Adler (1888 – 1942)
Ida Adler, geb. Israel (1892 – 1942)
Inge Adler (1934 – 1942)
Isaak Adler (1876 – 1942)
Justin Adler (1906 – 1942)
Leo Adler (1924 – 1942)
Lina Adler, geb. Schönfärber (1901 – 1942)
Ludwig Adler (1892 – 1942)
Manfred Adler (1932 – 1942)
Martha Adler (1901 – 1942)
Mathilde Adler, geb. Günther (1898 – 1942)
Paula Adler, geb. Grün (1886 – 1942)
Ruth Adler (1924 – 1942)
Senta Adler (1921 – 1942)
Serry Sophia Adler (1925 – 1942)
Hans Joachim Dillenberger (1931 – 1942)
Lenchen Dillenberger, geb. Frank (1892 – 1942)
Moritz Dillenberger (1877 – 1941)
Rosa Dillenberger, geb. Grün (1883 – 1941)
Rudolf Dillenberger (1893 – 1942)
Werner Dillenberger (1926 – 1942)
Abraham Freudenreich (1884 – 1942)
Alice Freudenreich (1921 – 1942)
Jenny Freudenreich, geb. Schafheimer (1894 – 1942)
Max Freudenreich (1880 – 1942)
Mira Freudenreich, geb. Freudenreich (1889 – 1942)
Ruth Freudenreich (1924 – 1942)
Sigi Freudenreich (1924 – 1942)
Berta Günther, geb. Fleischmann (1864 – 1942)
Herta Gerda Hecht (1908 – 1942)
Sofie Hecht, geb. Adler (1878 – 1942)
Karola Kaufmann, geb. Rosenstein (1861 – 1943)
Hermann Landauer (1882 – 1942)
Hilda Landauer, geb. Adler (1893 – 1942)
Tilly Meyer, geb. Leopold (1911 – 1942 (?))
Wolfgang Rosenstein (1865 – 1943)
Alfred Rothfeld (1920 – 1942)
Berthold Rothfeld (1908 – 1942)
David Rothfeld (1886 – 1942)
Hannchen Rothfeld, geb. Müller (1882 – 1942)
Hilda Rothfeld, geb. Müller (1886 – 1942)
Rosa Schloß, geb. Weikersheimer (1855 – 1942)
Arno Simon (1926 – 1942)
Hermann Simon (1891 – 1942)
Meta Simon, geb. Grün (1889 – 1942)